11.03.2011

Kritik der reinen Ästhetik

Wir alle streben nach Erkenntnis. Gemäss Immanuel Kant gibt es zwei Ebenen, welche menschliches Erkennen ausmachen: die Grundlage der Sinneswahrnehmung zum Ersten, und den aktiven Prozess der transzendentalen Logik zum Zweiten. Ersteres passiert unbewusst, ist also rein anatomisch-primitiver Natur. Die Ursuppe wird erst im zweiten Schritt mit Gedanken angereichert, was dann - je nach Subjekt - mehr oder weniger aktiv gesteuert wird. Dieser Zweischritt zum Erkennen nennt Kant transzendetale Ästhetik.

Tom Ford kann man wohl als Mann der Ästhetik bezeichnen. Sowohl als Modedesigner, wie auch als Regisseur hat er sich einer Form der Perfektion verschrieben. Und streben nach Ästhetik bedeutet immer auch streben nach Perfektion.

Für den zuvor angestossenen Gedanken soll sein Regie-Debut A Single Man als Anschauungsmodell dienen. Wir wollen Mass daran nehmen, um gewissen Umständen auf den Grund zu gehen. Dem grossartigen Film sollen dabei keineswegs die anmutigen Schwingen gestutzt werden. Viel eher soll dieser bescheidene Kommentar dazu dienen, die einzelnen Federn daran zu ordnen, gut sichtbar und in ihrer vollen Form erkennbar zu machen.





A Single Man ist alles andere, als dumpf auf Ästhetik getrimmte Unterhaltung für die It-Generation. Die Schönheit im Film ist nicht sinnleer. Im Gegenteil. Sie wird hervorragend ergänzt mit gehaltvollen Dialogen und ebensolcher Schwermütigkeit. Diese Ästhetik gewinnt erst Vollendung, durch ihre ebenfalls schönen Anrainer. Sie wird umschwärmt und verehrt. In diesem rauschhaften Tanz inszeniert Ford sie als reine Tugend.

Es handelt sich dabei um nichts mehr, als um eine Empfindung des Intellekts. Es ist denkerische Ästhetik, die dem Schöngeist serviert wird. Bilder, Schnitt, Schauspiel, Dialog und Kleidung vermengen sich zu einem effizienten Ensemble der Zweckdienlichkeit. Alles dient unverfälschtem Gefallen. Als recht offensiv kann das erlebt werden, wenn das eigene Schönheitsempfinden unter diesen Dauerbeschuss von Appellen gerät.





Thomas Mann widmet dem Erfassen von Schönheit in Der Tod in Venedig folgenden Satz:
"Fast jedem Künstlernaturell ist ein üppiger und verräterischer Hang eingeboren, Schönheit schaffende Ungerechtigkeit anzuerkennen und aristokratischer Bevorzugung Teilnahme und Huldigung engegenzubringen."
Was ist also dieser Hang zur Schönheit schaffenden Ungerechtigkeit? Es geht dabei um Kontraste, welche der Hervorhebung von Schönheit dienlich sind. Schönheit kann immer nur im Kontrast zum weniger schönen bestehen. Und sie besteht gleichzeitig auf Kosten dessen, was in unserem Wahrnehmen gegen sie abfällt. Darin liegt die Ungerechtigkeit und Dichotomie der Schönheit verborgen.

Die Ästhetik in A Single Man wird aber deshalb als so überwältigend wahrgenommen, weil ihr Widerpart ausgeblendet bleibt. Und genau das ist hohe Schule. Der Schönheit selbst werden im Film Kränze gewunden, als gäbe es nichts anderes, nur Schönheit um der Schönheit willen. Alles Schattenhafte, alles Sklavenhafte, das der Schönheit sonst zudient, scheint nicht vorhanden zu sein. Selbst im Elend eines Todesfalls ist nicht weniger, als die Ansehnlichkeit der Trauer zu Hause.





A Single Man ist ein Fantasiegebilde, das krude Gegensätze zur Realität zeichnet. So sollten sich im Zuge des zweiten erkenntnistheoretischen Schrittes von Kant gewisse reflexartige Reaktionen einstellen, führen doch diese schönen Bilder kaltblütig die Herabwürdigung unserer Wirklichkeit im Schilde. Besser noch: die Momente purer Ästhetik existieren in Wahrheit mit aus diesem Grund. Ihr Hochleben verdanken sie unserer als nicht so schön empfundenen Realität.

Aber wenig passiert. Wir sind gerne dazu bereit, Momenten des ungetrübten Schönheitsempfindens Teile unserer Wirklichkeit zu opfern. Frägt niemand nach Herkunft und Beschaffenheit des Opfers, können diese Momente des Genusses weitreichende Folgen haben. Der Begriff der Ästhetik wird verzerrt und über unser Wirklichkeitserleben emporgehoben. Schönheit gehört aber in unseren Alltag, Schönheit darf schmutzig sein und auch mal ganz trivial. Sie soll nicht hinweggehoben werden, dorthin, wo keiner mehr ihr genügt.

A Single Man ist ein erstaunliches Kunstwerk, welches in seiner artifiziellen Anschauung von Ästhetik Bezug nimmt, auf unser Wirklichkeitserleben. Dieser Bezug muss hergestellt sein, um dem Kunstwerk seine Raison d'Être zu verschaffen.

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