09.02.2011

Paul Simon

Von mir und Paul Simon

Der Weg zu einer vertieften Beziehung zwischen Mensch und Musik.

Die Konzentration auf Wesentliches ist eine Schlüsselkompetenz zum erfolgreichen, performanceorientierten Leben in den Nuller-Jahren. Aufgrund der Werte, welche uns leiten, folgen wir auf verschiedenen Wegen dem Wesentlichen. Aber wir genügen uns selten, auf diesen Wegen. Ein Wink, ein Tipp, eine Interpretation – und wir drehen uns nach dem Wind. Manchmal bereichert uns das und manchmal verlieren wir uns dabei selbst, meist aber beides zugleich. Und trotzdem bleibt uns so vieles verborgen. Gerade weil wir eine Betrachtung gefasst haben. Gerade weil wir meinen, das Wesentliche an der Sache entdeckt zu haben. Zweitbetrachtungen und Perspektivenwechsel können wir uns nicht leisten. Wir schaffen uns nicht die Möglichkeit, etwas Bekanntes neu kennen zu lernen. Wir gestatten es uns nicht, da das Verlassen der erstrittenen Position als Schwäche ausgelegt wird.

Ich kannte Paul Simon schon lange. Ergänzt mit Art Garfunkel ergab sich diese eine Stimme. Die Stimme von Simon and Garfunkel. Und jetzt fühlte es sich als unheimliche Gotthandlung an, diese mystische Einheit zu trennen. Ich brauchte lange, mich vom Eindruck Simon and Garfunkel’s zu lösen. Was ich vor hatte, war hohe Schule. Betrachtung zu verändern – Paul Simon durfte nicht auf dem Fundament von Simon and Garfunkel wachsen. Er sollte sein eigenes Monument werden.

Ich setzte mich gezielt mit drei Alben im Repertoire Simon’s auseinander. Es waren die Alben, von welchen ich hier und da gelesen hatte. Alle drei gehören zum frühen Solo-Schaffen des Künstlers und wurden zwischen 1972 und 1975 veröffentlicht. In Sachen Wesentlichkeit hatte ich mir bereits einen klaren Fokus zurechtgelegt. Ich war zwar mit Alben wie Graceland gross geworden. Kindheitserinnerungen stellten aber in der beabsichtigten Betrachtung eine Störung dar und konnten womöglich den selbst gesteuerten Zugang beeinträchtigen. Konkret handelte es sich bei den auserwählten Alben um Paul Simon (1972), There Goes Rhymin’ Simon (1973) und Still Crazy After All These Years (1975).




Wie nah Paul Simon immer wieder dem Gospel kam, faszinierte mich. Nicht der Fakt, dass es sich dabei um einen bedeutenden Einfluss seiner Musik handelt, sondern wie er sich ihm näherte und den Kontext, welchen er damit immer wieder veränderte. Das zeugte von einer Ehrfurcht gebietenden Weite der musikalischen Möglichkeiten, über welche Simon verfügte. Der Gospel war nicht einfach eine Facette. Alle Färbungen, welche diese traditionelle Musik aufwies, schien Simon zu kennen. Er komprimierte sie und liess daraus seine eingene Neigung, seine eigene Interpretation dieser tiefgründigen Leidenschaft wachsen. Der Gospel wächst auf diesem Nährboden als junge und kräftige Pflanze in seine Musik hinein. Er ist hier nicht mehr Einfluss, sondern zur Gänze etwas, das Paul Simon entwachsen ist.
Ich würde There Goes Rhymin’ Simon als dasjenige der drei Alben bezeichenen, welches am vordergründigsten vom Gospel getragen ist. Bei Take me to the Mardi Gras schlägt er einem erstmals entgegen. In Form der fantastischen Falsetto Stimme Reverend Claude Jeter’s. Die Wärme der Stimme wird von einem sanften Tremolo über genau eine Strophe transportiert. Dann gibt der Reverend den Lead wieder an Simon ab. Diese knappe halbe Minute war einer der erleuchtendsten Momente, welcher Musik für mich zu bieten hatte.




Run that Body down auf Paul Simon repräsentiert für mich eine andere wichtige Komponente seines Werks. Hier kommt die immense Songwriting-Qualität Simon’s zum Ausdruck. Sein Geschick für die Melodie geht in der Instrumentierung des Songs auf. Kein Wunder, hatte ich immer das Gefühl, ein Paul Simon Song könne niemals anders klingen. Ich glaubte zu wissen, dass diese Musik unbedingt und ganz genau so sein müsse. Perfekte Organisation war mir fremd bis dahin. Run that Body down ist perfekt organisiert. Und ich sah mich veranlasst, eine vollkommen neue Massregelung von Güte zu akzeptieren. Simon’s Musik ist seither für mich unwiederbringlich zum Equivalent von wohl geordneter Ästhetik geworden.




Still Crazy After All These Years enthält die bestausgestatteten Songs. Nie überladen – aber es ist festzustellen, dass Simon sich hier mit markanten Rhythmen, schneidigen Bläsern und dezenter Orchestrierung beschäftigt hatte. My little Town zeigt diesen Hang zur kalkulierten Opulenz gut auf. Der Song wächst, schöpft nicht gleich aus dem Vollen. Die Hälfte ist verstrichen, bis die Bläser einsetzen und alles wird noch immer grösser und wuchtiger. Vermutlich ist es aber genau die Rhythmik, welche diesem Überschwang die Spitze nimmt. Sie durchzieht die Momente der Fülle mit einer luftigen Leichtigkeit. Die Balance ist hergestellt. Alles bleibt wohl geordnet.

Simon’s Musik verströmt eine gewisse Stabilität. Es ist nichts Ausschweifendes oder Unausgeglichenes dabei. Das sind nicht im geringsten diejenigen Attribute, für welche ich Musik im Allgemeinen schätze. Im Gegenteil. Aber sie waren wegbereitende, für die vertiefte Beziehung, welche mich mit diesen drei Alben verbindet. Und obwohl ich selber nicht frei war, in der Auswahl dieses Ausschnitts, so rechtfertigt sich der Fokus durch diese Beziehung. Ich lief während meinem Unterfangen immer wieder Gefahr, zu vergleichen. Denn natürlich gibt es bei Paul Simon’s Solo-Werk auffällige Parallelen zum gemeinsamen Schaffen mit Art Garfunkel. Aber es ist mir gelungen, diese Vergleichbarkeit nicht zur Eigenschaft Simon’s Musik werden zu lassen. Und ich glaube, das ist die Essenz dieser ganzen Geschichte.

Mit diesen Gedanken erkläre ich den Weg zur Musik meines Lebens – zu drei der wichtigsten Alben für mich. Man kann sich nie gewiss genug sein, wie man sich gewiss wird. Ich konnte mir die Wesentlichkeit Paul Simon’s neu erschaffen. Ich weiss nicht, ob sich dadurch meine Position in der Wahrnehmung von performanceorientierten Nuller-Menschen verbessert. Es ist aber für mich definitv ein Schritt vorwärts, in meinem persönlichen Umgang mit Musik. Denn Geschmack – Musikgeschmack im Besonderen – ist in jeder Hinsicht formbar. Nicht von der Industrie, wenn man darauf besteht. Sondern von einem selbst. Man sollte sich in dieser Hinsicht mehr zutrauen.



(©ns - Text erschienen am 11. Juli 2009 auf exitmusic.ch)

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