10.01.2011

Selten klar

Joachim hatte vor kurzem erstmals seinen Tod geträumt. Er erlebte das jetzt öfters. Diese seltenen Momente vollkommener Klarheit. Selten, weil sie üblicherweise nicht in überschaubarer Häufung zu Tage traten. Er konnte sich ehrlich gesagt gar nicht an vorher erinnern. Wie das war, als er dieses Ereignis vielleicht ein- oder zweimal zutiefst verwundert bemerkt hatte, ihm aber keine weitere Beachtung geschenkt hatte. Da war es auch nicht um seinen Tod gegangen. Vorher war ihm jetzt egal. Denn jetzt hatten die Ereignisse seine Beachtung gewonnen, - mehr noch, sie hatten sie aufs Gröbste erzwungen. Unangenehm war es ihm nicht. Obwohl er sich irgendwie entwillt vorkam.

Dicht am Nacken den Duschkopf, den harten Strahl genau dorthin gerichtet, wo die Wirbelsäule in den Kopf ragt, - so kam er zu sich. Das Wasser in der kleinen Duschkabine stand ihm über die Knöchel und drohte beim nächsten Tropfen überzulaufen. Er stand sehr gerade aufgerichtet  und schaute mit halbgeschlossenen Augen oberhalb der Duschvorhangstange in die nahe Badezimmerlampe. Wobei sich das Licht in organischer Fliessbewegung zu ihm hinzubewegen schien. Es sprang von Dampfpartikel zu Dampfpartikel, welche in diesem Moment in beachtenswerter Dichte standen. Und so tropfte es von den Fliessen. Es tropfte von seinen Wimpern über seine Lippen und er wollte es eigentlich einsaugen, wie Kleinkinder das gelegentlich bei Weinkrämpfen mit Tränen tun, wenn sie ihnen dick auf die Oberlippe rollen. Er konnte nicht. Er war sich nicht sicher, ob er tatsächlich da war.

Joachim war hochgewachsen. Er passte in diese Wohnung, als hätte er zur Zeit ihrer Entstehung den Maurergesellen in jedem einzelnen Raum Modell gestanden. Als hätten sie die Wände und Decken nach seinem Körpermass geschaffen. Aber das war dann auch schon das Ende seiner bescheidenen Allmachtsphantasien. Er erlaubte sich wenig in dieser Hinsicht und wusste genau um seine Durchschnittlichkeit. Nicht dass er sich klein machte deswegen. Alles war solide an ihm. Aber die Vorstellung, dass jemand um seinen Körper herum ein Haus bauen lassen könnte, gefiel ihm und er schmückte sie deswegen oft aus.

Keine Ahnung, wie lange er bereits da stand. Alles Vorher war trüb. Er erinnerte sich, früher von der Arbeit gegangen zu sein. Auf dem Nachhauseweg plagte ihn der Hunger, da er wie so oft kein Geld mehr abheben konnte und aus diesem Grund auf Zwischenmahlzeiten verzichten musste. Vielleicht hatte er gegessen und war dann unter die Dusche gestiegen, um sich rechtzeitig für den Blockbuster vor dem Fernseher einfinden zu können. Alles, was er in diesem Moment wusste war, dass seine beiden Lungenflügel so randvoll mit Luft waren, dass er in der Folge gefühlte Minuten ausatmete. Er hatte sich noch nie in seinem ganzen Leben so voll Luft und Licht und Liebe gefühlt, wie jetzt. Durchdrungen von diesem Ereignis, nachdem er bereits wieder einatmen musste und vor Vermeidung und Herauszögern beinahe in Ohnmacht gefallen war, schaffte er es, den Hahn zuzudrehen.

Kurzum, er war ihm begegnet. Er musste es gewesen sein. Im Innersten erschüttert schob er den Duschvorhang zur Seite und setzte seine Füsse treffsicher auf die rote Fussmatte, die er auf dem Boden vor der Kabine platziert hatte. Was konnte man schon dazu sagen? Solche Dinge waren weit ausserhalb irgendeiner Begrifflichkeit. Joachim suchte nicht nach Worten. So blieben diese Ereignisse, die – wie man meinen könnte – von grossem Interesse waren, für ihn Fussnoten eines festgeschriebenen Lebens. Ein Leben, das sich die Blösse gerne mit einem weichgespülten Frotteetuch verhüllt und nackten Fusses, noch benetzt von dem Wasser, das vorhin Licht und Liebe vorgab zu sein, vor die Eingangstür tritt, den Arm nach dem halbleeren Bierkasten streckt und sich gemütlich vor dem Fernseher zum längst vergangenen Blockbuster einfindet.


©ns

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